11/1/24 – Von Protesten, Protestanten und dem prallen (Arbeits-)Leben

Ich

Sie nerven, ganz offen gestanden. Dass Landwirte keinen einfachen aber sehr wichtigen Beruf haben – d’accord. Dass sie für ihre Anliegen (berechtigt oder nicht) auf die Straße gehen – gut. Zum Glück leben wir in einen Land, in dem solche Proteste geschützt und nicht von Staatswegen niedergeknüppelt werden, ganz gleich, wofür jemand demonstriert. Aber was sich derzeit auf den Straßen abspielt, bereitet mir Sorge. Nicht allein die Landwirte legen Straßen lahm, binden Einsatzkräfte und trommeln für sich. An ihrer Seite marschiert ein ungutes Gemisch aus Querdenkern, braunen Umsturzfantasten und Anarchiebegeisterten, für die das alles grad großer Fasching ist. Es hilft leider wenig, wenn alle Bauernverbände stets darauf hinweisen, man distanziere sich deutlich von Trittbrettfahrern – die Trittbrettfahrer distanzieren sich eben nicht von den Bauern, sondern nutzen deren Aufmerksamkeit, um gesellschaftlich für Aufruhr zu sorgen. Ungeachtet dessen, ob die Ampelregierung einen guten Job macht oder nicht – sie ist nicht für die Agrarpolitik der vergangenen 30 Jahre verantwortlich. Warum beschweren sich die Landwirte nicht bei den Großkonzernen, die die Preise drücken, so weit es geht? Wieso ist die Regierung an allem Schuld, die ihnen offenbar mit ihren Subventionen in den letzten Jahren doch den Arsch gerettet hat? Am allermeisten kotzt mich ja an, dass sich derzeit genau die mit den „armen Landwirten“ solidarisieren, die sich als erstes drüber aufregen, wenn die Billigheimer-Import-Angebote bei Aldi und Lidl vergriffen sind. Aber ne, irgendwie kauft offenbar plötzlich jeder beim geschundenen Biobauern um die Ecke ein. Deswegen verdient der ja auch nix. Oder so. (Im Übrigen werden auf gerade einmal 14 Prozent der Deutschen Äcker Lebensmittel angebaut. Der Rest ist Tierfutter oder wandert in die Biogasanlagen. Und wer mal gucken möchte, wie viel der Bauer um die Ecke aus EU-Töpfen bekommt, kann dies hier tun, einfach, indem er die Postleitzahl eingibt. Es ist immer gut, Fakten zu kennen, bevor man auf die Straße rennt.)

Nun denn. Mich hat das Thema die ganze Woche sowohl beruflich begleitet als auch privat, als ich am Montag im Stau stand inmitten von Traktoren, deren Fahrer mindestens zu zwei Dritteln alles andere sind als Landwirte. Aber merke: Jeder, der einen Traktor hat, ist Bauer. Hätte man die Deutz‘ und Fendts ordentlich geschmückt und einen Pfarrer auf jeden Kreisverkehr gestellt, hätte man das Schleppertreffen und die Fahrzeugweihe auch gleich mit abhaken können. Aber ne, ist ja n’ernstes Thema. Und so fahren sämtliche Möchtegern-Systemsprenger, die offenbar immer Zeit haben, mit rot-weißer Bebänderung am Außenspiegel des Straßenbau-Lasters (Straßen-BAUER, aha!) hupend hintereinanderher her und demonstrieren für und gegen alles, was sie schon lange mal loswerden wollten. Die Ampel muss weg, die Maut muss weg, die Mauer muss weg, ach ne, das war ja erledigt, die Steuer muss weg.

Warum fordert niemand, dass Lebensmittel angemessen bezahlt werden müssen? Warum sind unsere Lebensmittel im Vergleich zu unseren Nachbarländern immer noch viel günstiger? Warum dürfen innerhalb der EU unterschiedliche Spritzmittel ausgebracht werden, warum gibt es auf derart behandelte Ware keine speziellen Importzölle? Fragen, die man sich berechtigterweise stellen darf, auch öffentlich, auch laut und wegen mir auf der Straße. Aber immer mit offenen Augen, wer sich allein zur Stimmungsmache an den Trecker hinten anhängt.

Und vor lauter hatte ich gestern nach einem langen Tag statt von „Protestierenden“ in Anlehnung an „Demonstranten“ immer von Protestanten geschrieben. Und war gottfroh, im Wortsinn, dass der Text gegengelesen und unter Lachen korrigiert wurde.

Sonst so? Ich war diese Woche bei Gericht (bei! nicht vor!) und dort mit einem Fall konfrontiert, der mich beschäftigt hat. Angeklagt war eine junge Frau wegen Betrugs (unzweifelhaft unrühmlich, klar). Berührt hat mich, dass sie mit häuslicher Gewalt aufgewachsen ist, mit 14 ihr erstes Kind bekam und während der Schwangerschaft geschlagen wurde. Das Frühchen kam mit doppeltem Herzfehler zur Welt und musste lang von einem Monitor überwacht werden. Ihr zweites Kind hatte einen Unfall und ist seitdem geistig und körperlich beeinträchtigt, ein Pflegefall. Das dritte Kind ist das einzig Überlebende einer Drillingsschwangerschaft und stark sehbehindert. Ihr Lebensgefährte erlitt durch Mobbing einen Burn-Out, die psychisch-kranke Muttter hat sie vor Kurzem bei sich aufgenommen. Manche Menschen scheinen vom Schicksal überhaupt nie verschont zu bleiben. Während andere hupend und johlend auf der Straße rumfahren und nicht wissen, wo es ihnen fehlt. Gnurf.

Aber jetzt: Genug gegrantelt für heute. Ich hatte heute Frisör statt Sport, mal gucken, ob ich jetzt noch irgendwie auf meine Schritte komme. War diese Woche zweimal laufen, würde also auch morgen wieder reichen. Ob ich mich noch aufs Rad schwinge? (Drin, im Warmen?)

Die Kurznachrichten des Tages:

Gegessen: Hüttenkäse mit Erdnussmus und Apfel, Zucchini-Feta-Reis.

Gelesen: Die Correctiv-Recherche, ein zweites Mal bereits. Ich ziehe meinen Hut vor den Kollegen, das ist ein großartiges Stück. Inhaltlich natürlich beyond gruselig, aber handwerklich grandios und mutig.

Gesportelt: Noch nicht, que sera, sera.

Gefreut über: Das nette Gespräch grad mit zwei Katharinas vom (erweiterten) zdf. Noch ist nichts entschieden, ich erzähl später, was dahinter steckt.

LaSignorina