Gedanken zum Montag – der Homo Nörgelensis

Leise, fast unbemerkt, scheint sich in den vergangenen Jahren eine invasive Art in Deutschland verbreitet zu haben. Unter den Homo sapiens sapiens, den verständigen Menschen, also den, der sich seines Verstandes bedient, hat sich der Homo nörgelensis gemischt. Eine Art, die scheinbar sehr schonend mit der Ressource Verstand umgeht, möglicherweise auch aus Ressourcenknappheit heraus sparsam damit umgehen muss.

Der Homo nögelensis unterscheidet sich äußerlich nicht vom Homo sapiens und ist daher auch nur am Verhalten von diesem zu unterscheiden. Gibt er Laut, fällt die Unterscheidung jedoch ausgesprochen leicht. Der Homo nörgelensis fühlt sich am Wohlsten dort, wo er seinesgleichen trifft, das ausgeprägte Rudelverhalten lässt sich in Kommentarspalten sozialer Medien besonders gut beobachten. Kommt es dort zu einer Durchmischung der beiden Unterarten, sieht man recht schnell, dass der Homo sapiens dem Homo nörgelensis unterlegen ist. Während der Homo sapiens sich um Argumente bemüht und immer zu neuen Erklärungen in möglichst einfacher Sprache ansetzt, auf Fakten verweist und vergeblich an den Verstand des Homo nörgelensis appelliert, hat der leichtes Spiel: Er hat nämlich Recht.

Hat der Homo nörgelensis einmal ein Thema für sich gefunden, erkennt der Beobachter rasch eine Herdenbildung. Der Homo nörgelensis ernährt sich von Zustimmung Gleichgesinnter, die sich, bedenkt man das weitgehende Fehlen von Verstand, erstaunlich rasch im Feindbild einig sind. Bevorzugte Beute ist für den Homo nörgelensis, alles, was ihm „von oben“ aufgedrückt wird. Seine misstrauische, gar feindliche Haltung gegenüber allem, was Behörden, staatliche Einrichtungen oder andere Machtinstitutionen anordnen, zeigt sich im aggressiven Sozialverhalten. Hinter Entscheidungen vermutet der Homo nörgelensis die grundsätzliche Bösartigkeit der Entscheidungsträger, sein Weltbild scheint geprägt davon, das Opfer willkürlicher Beschlüsse zu sein, denen er sich fügen soll. Dass Amtsinhaber, geleitet von einem Verantwortungsgefühl, an Aufgabenstellungen herangehen und Enscheidungen sorgsam abwägend treffen und eben nicht danach, wie sie dem Homo nörgelensis möglichst großen Schaden zufügen, scheint gänzlich außerhalb dessen Vorstellungsvermögen. Der Homo nörgelensis sieht sich in der Opferrolle und ist grundsätzlich erst einmal dagegen. Gegen alles. So richtig. Gerne auch crossmedial.

Um seinen Unmut über seine Situation möglichst jedem begreiflich zu machen, wettert der Homo nörgelensis gerne in sozialen Medien gegen alles, was ihm diesen Aufwand wert scheint. Neuerungen, Neuanschaffungen und Neubauten findet der Homo nörgelensis grundsätzlich unnötig und klagt über die Verschwendung von Steuergeld. Er malt dytopische Zukunftsbilder vom „kleinen Mann“, der stets gegeißelt und geschröpft wird. Dabei verhält er sich äußerst kreativ. Öffnet ein neuer Laden, moniert der Homo nörgelensis das Warenangebot. Schließt ein Laden, bedauert der Homo nörgelensis den grundsätzlichen Niedergang der Wirtschaft. Erweitert ein Amt seine Öffnungszeiten, beklagt der ewig Klagende die Unfreundlichkeit der Angestellten, werden die Schalterzeiten gestrafft, missfällt ihm freilich die Bürgerunfreundlichkeit. Findet ein Festival statt, stören die Menschenmassen, die Lautstärke, der schiere Anblick der Gäste (und was das alles KOSTET!), wird es abgesagt, sind die wahren Gründe bestimmt bei „denen da oben“ zu suchen, die den bemitleidenswerten Veranstaltern den Garaus machen wollten. Bietet die Stadt kostenlose Parkplätze an, sind es grundsätzlich zu wenige, gibt sie Geld für Kunst aus, hat sie wohl das Haushalten verlernt und sowieso immer den Arsch offen.

Dem Homo nörgelensis ist es völlig egal, was in den Artikeln der ohnehin obrigkeitshörigen Presse steht, unter denen er seinen Hass auskübelt. Denn zum Lesen und Verstehen scheint wiederum nur der Homo sapiens sapiens in der Lage zu sein, der sich interessanterweise nicht gerne dort aufhält, wo der Homo nörgelensis lautstark wütet.

Dass die Population des Homo nörgelensis in den Jahren der Pandemie stark zugenommen hat, ist ein subjektiver Eindruck und kann nicht wissenschaftlich belegt werden. Sicher ist jedoch, dass beim Homo nörgelensis die Lebensfreude gemessen an der Lebenszeit in einem starken Missverhältnis steht. Weil sich der Homo nörgelensis als eine invasive Art zeigt, also in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen zum Homo sapiens sapiens tritt, und ihn zu verdrängen droht, ist einzig und allein das Abstandhalten als Vorsichtsmaßnahme zu empfehlen. Oder um die Autorin, die sich mit Grundlagenforschung zum Homo nörgelensis beschäftigt, zu zitieren: „Ain’t nobody got time for bullshit.“

Gedanken zum Donnerstag – der soziale Akku

„Mein sozialer Akku war einfach leer“, sagte eine Lieblingskollegin neulich und beschrieb das Gefühl, sich jetzt sofort einfach zurückziehen zu müssen, um nicht am Rad zu drehen. Ich hörte ihr zu und wusste im selben Moment ganz genau, wie sie sich gefühlt hatte. Der soziale Akku – die Energie, die uns mit anderen interagieren lässt, uns zuhören, kommunizieren, mitdenken lässt. Und das nach Möglichkeit nicht nur auf der passiven Seite, sondern auch noch eloquent, witzig, geistreich, empathisch. Ich habe mich sofort verstanden gefühlt, allerdings ist mir das schöne Bild mit dem Akku noch nie in den Sinn gekommen.

So sehr ich meinen Beruf liebe, der mich jeden Tag mit Menschen zusammenbringt, so sehr mag ich auch die Abkehr von allem. Mir begegnen, ob ich möchte oder nicht, freundliche Menschen, unfreundliche Menschen, genervte Menschen, fordernde Menschen, unzufriedene, kritisierende, egozentrische. Natürlich auch sehr viele nette. Die besten Kollegen habe ich ohnehin.

Und dennoch ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich abends nach einem wuseligen Redaktionsalltag ins Auto steige, die Musik leiser drehe und froh bin, dass ich endlich stumpf vor mich hindenkend (gerne an nichts), alleine so rumsitzen und fahren kann. Manchmal ertrage ich dann sogar nicht mal mehr einen Nachrichtensprecher, weil ich das Gefühl habe, ich müsste ihm der Höflichkeit halber zuhören. Geht aber nicht mehr, Akku leer, Kopf voll.

Und während ich so über den sozialen Akku nachdachte, fiel mir Corona ein. Wenn man versuchen möchte, einer Pandemie irgendetwas Gutes abzutrotzen, bei all ihrer Schrecklichkeit und dem Leid, das sie über viele gebracht hat, dann, dass es eine Zeit des nichts-müssens war. Von jetzt auf gleich waren alle Termine weggefallen. Weder gab es in der Redaktion Pressegespräche noch gab es Ausstellungseröffnungen, Konzerte, Gemeinderatssitzungen in Präsenz oder Theaterabende, noch wurde man zu Geburtstagen oder Jubiläen oder Grillfesten eingeladen, ging nicht in den Italienischkurs und nicht in den Klavierunterricht.

Nicht falsch verstehen, all das ist schön und hat seine Berechtigung und hat vielen auch gefehlt. Aber wenn ich ehrlich bin – diese plötzliche Freiheit, die Freizeit wieder ganz neu verplanen zu können, sich fürs Innehalten nicht rechtfertigen zu müssen und nicht als langweiliger Stubenhocker zu gelten … ein bisschen vermisse ich sie schon. Und ein bisschen erinnere ich mich mit Wehmut an sie, wenn ich den privaten und beruflichen und schulischen Terminkalender übereinanderlege und sehe, wie die Lücken zwischen Pflicht und Kür plötzlich wegschmelzen. Wie mein Hirn mir vorrechnet, dass ich am Mittwoch hier und am Donnerstagabend dort sein muss und am FREITAG erst…

Und alle, die jetzt sagen, ja aber der Mensch ist doch ein soziales Wesen, Corona hat viele auch in Depressionen versinken lassen – völlig richtig. Aber halt nicht jeden. Ich war so gerne mit mir und meiner Familie alleine und habe nicht einen einzigen Tag gedacht, jetzt wär ich gern in einem vollen Freizeitbad. Womöglich gehöre ich zu dem Schlag Menschen, die sich selbst sehr gerne mögen und sehr gut mit sich allein sein können. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mit Freude alleine wandere oder jogge – wandern gern auch in Gesellschaft, geht aber auch gut als me, myself, the Rucksack and I.

Weil es aber natürlich durchaus stimmt, dass Menschen nicht für ein Eremitendasein gemacht sind und ich keinesfalls riskieren möchte, zur schrulligen alten Frau zu werden, die mit dem morgendlichen Müsli die besten Gespräche führt und mit dem Postboten nur noch nickend durchs geschlossene Fenster kommuniziert, sehe ich zu, dass ich meinen Akku in ruhigen Zeiten randvoll auflade, um dann kommunikativ, unterhaltsam und witzig zu sein, wenn es gebraucht wird. Vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens ein introvertierter Mensch, für den das Mit-sich-sein der Normalzustand ist und soziale Interaktion die Besonderheit. Ich wähle daher mit großem Bedacht aus, wer mir auf den Akku gehen darf. Und die richtigen Menschen geben ohnehin immer ein bisschen mehr Energie ab, als sie ziehen. Und die sind immer willkommen.

Gedanken zum Montag – Tausend Jahre

Als neulich das Gespräch im Bekanntenkreis auf alte Fernsehsendungen kam, sagte jemand „kennt ihr noch die Serie ‚Es war einmal der Mensch‘?“ Da war dieser weise Mann mit dem langen Bart, der Sägen, Bücher und ganze Einbauküchen aus selbigem ziehen konnte, und diese vielen kleinen Helferlein, die erklärten, wie der menschliche Körper von innen aussieht und funktioniert. Irgendwann summte jemand die Titelmelodie von Udo Jürgens dazu: Tausend Jahre sind ein Tag.

Das Lied, beziehungsweise diese Zeile, begleitet mich seither, denn mittlerweile gehöre ich wohl dank etwas fortgeschrittenen Alters auch zu denen, die ständig betonen, wie schnell die Zeit doch plötzlich vergehe. Vermutlich ist das was Genetisches, das automatisch mit dem vierzigsten Geburtstag aktiviert wird. Grade noch in den Tag hineingelebt, zack, „Kinder, wie die Zeit vergeht“. Grade noch war Silvester, dann haben wir uns über den fehlenden Schnee im Januar (Kind wollte doch endlich Skifahren) beklagt, ich bin so doof aufs Knie gestürzt (und überambitioniert zwei Tage später joggen gewesen), dass sich meine Patellasehne im linken Knie beleidigt enzündet hatte, dann hatte ich in der Redaktion Fasnetsdienst, dann war März und wir haben neue Fahrräder gekauft (und sind reihum einer fiesen Grippe erlegen), das Knie und ich waren endlich wieder Freunde, jetzt ist April und der ist auch schon wieder fast vorbei. Die Wochen, es scheint wirklich so zu sein, fliegen dahin.

Liebgewonnene Menschen sind aus meinem Leben gegangen, aus eigenen Stücken, im Zorn leider. Unnötigerweise auch. Ich habe leise die Tür hinter ihnen geschlossen, weil der Streit auf der Türschwelle nur dafür sorgt, dass es kalt wird. Und das möchte ich nicht. Aber auch hier – die Zeit lässt Gras wachsen.

Ich kann nicht verhindern, dass die Tage, Wochen, Jahre dahinrasen. Aber als ich neulich einem älteren Kollegen zuhörte, musste ich unweigerlich schmunzeln. Er sprach von Arbeitszeitmodellen und sagte mit einem süffissanten Unterton, dass er noch aus einer Generation stamme, in der work-life-balance ein Fremdwort war. Er sagte es so, als sei es eine seltsame Marotte der U-50-Belegschaft, überhaupt an ein Leben außerhalb der Arbeit zu denken. Teilzeit als eine Art eitler Verweigerung. Wer etwas auf sich hält, für den sind die 40 Stunden im Arbeitsvertrag lediglich eine Mindest-Empfehlung, die zu toppen gewissermaßen ehrenvolle Pflicht ist, will man seinen Job richtig machen.

Gesagt hat niemand etwas. Aber das innere Stirnrunzeln war förmlich zu hören. Vielleicht, dachte ich mir, haben sich die etwas jüngeren Kollegen die älteren „Vorbilder“ mit der Arbeitsmoral eines Zinnsoldaten genau angesehen. Und vielleicht konnte einfach niemand von ihnen etwas Erstrebenswertes darin finden, mit Mitte 30 an Bluthochdruck zu leiden und mit Mitte 40 einen latenten Burnout wie eine Lunchbox jeden Tag ins Büro mitzuschleppen.

Vielleicht machen die ihren Job viel richtiger, die ihre Kräfte nach eigenem Gusto richtig einteilen, sich Raum geben und nehmen, an anderen Stellen ebenso 100 Prozent zu leisten? Wer weiß schon heute, wie die Generation meiner Tochter mal arbeitet?

Denn die Zeit vergeht für uns alle gleich schnell. Und wie viel jeder von uns davon hat, weiß niemand. Die Frage, die jeder für sich beantworten muss, ist, was er mit der Zeit anfangen möchte, die ihm gegeben ist.

Ich habe vor einiger Zeit den Sport für mich entdeckt. Ich, die 40 Jahre lang glaubte, Sport sei etwas für andere Menschen. Ich würde nicht behaupten wollen, zu den ambitionierten Freizeitsportlern zu gehören, ich habe zum Beispiel keinerlei Lust auf Wettkämpfe oder darauf, mich mit anderen zu messen. Es geht mir dabei viel eher ums Zwiegespräch mit mir. Wenn ich laufe, wenn ich das richtige Tempo finde, laufen meine Gedanken auf wundersame Weise neben mir her, biegen ab, kehren zurück, machen Umwege, nehmen Abkürzungen, bringen mich auf freier Strecke zum Schmunzeln oder zum Grübeln. Wenn ich nach Hause komme, habe ich ein … sagen wir gut durchblutetes Gesicht, müde Beine und fühle mich wunderbar ausgepowert. Ganz ehrlich – selten hatte ein Tag in der Redaktion einen ähnlichen Effekt auf mich, wenngleich meine Kollegen für mich sowas sind wie eine Woche Ibiza in Personalform.

Gestern haben wir ein paar Kilometer mit den neuen Mountainbikes gedreht. Und da hatte ich ganz kurz das Gefühl, dass sich die Zeit auch zurückdrehen kann: Nämlich als ich johlend bergab über einen matschigen Waldweg schoss und geradeso zwischen zwei tiefen Pfützen hindurchgezirkelt kam. Ich hatte danach Hosenbeine wie ein Erdferkel und Herzklopfen vor lauter Adrenalin, aber … es war ein Glücksmoment, der mich gefühlt um Jahre zurückgeworfen hat.

Und ich glaube, in meiner altersbedingten Weisheit, dass ich diese Momente sammeln möchte. Diese Momente, an denen gefühlt die Zeit kurz stehen bleibt, die sich einbrennen in mein Hirn. Um dann auch wieder Kraft und Lust zu haben, die restliche Zeit am Schreibtisch alles zu geben.

Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Ein Augenblick
Ein Stundenschlag
Tausend Jahre
Sind ein Tag

Von einer, die auszog … Tag 2

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich vor dem zweiten Tag meines Albsteigabenteuers ein bisschen Respekt. Nicht nur war die Strecke nochmal ein paar Kilometer länger, vor allem standen einige Höhenmeter an und es war noch ein bisschen heißer als am Vortag. Aber ich hatte gut geschlafen, erstaunlich wenig Muskelkater und war guter Dinge. Nach einem wirklich netten Frühstück checkte ich aus und beschloss, mich in die Schlange beim Bäcker auf dem großen Marktplatz zu stellen, um frischen Proviant für den Tag zu besorgen. Gut gerüstet ging es in Richtung Bahnhof und dann erst hinauf und hinab, vorbei an der Jugendherberge und einem Pferdehof.

Der Uracher Wasserfall von oben

Ich wusste, dass mir der Aufstieg gleich zu Beginn der Tour nicht erspart blieb, aber diesmal war es ein Wanderweg durch einen am Morgen noch einigermaßen kühlen und schattigen Wald. Nach einer Weile führte er nur noch sachte bergan, bis ich von Weitem schon das Rauschen des Uracher Wasserfalls hören konnte. Oben angekommen stellte ich erstaunt fest, dass trotz der frühen Uhrzeit schon einige Wanderer unterwegs waren. Vermutlich ist an schönen Sommertagen zur Mittagszeit an diesem großzügigen Rastplatz mit bewirteter Hütte die Hölle los. Ich bestaunte den Wasserfall von oben (von wo er nicht besonders spektakulär aussieht) und holte kurz Luft.

Knackige Aufstiege inklusive

Was sich als sinnvoll herausstellte, denn es sollte ein knackiger Aufstieg zum Rutschenfelsen folgen, der die Einordnung als „schwere Wanderung“ durchaus rechtfertigt, aber halt auch landschaftlich wirklich reizvoll war: Ein schmaler Pfad führt herum um einen Felsen, man erklimmt über kleine Treppen Meter um Meter und wird schließlich mit einer wirklich spektakulären Aussicht auf Urach, die Hohenurach und die gesamte Umgebung belohnt. Besonders eindrücklich war für mich der Blick weit hinüber zum Hohenneuffen, wo ich noch am Vortag gewandert war: Faszinierend, welche Distanzen man zu Fuß zurücklegen kann.

Der Hohenneuffen, hinten links in der Ferne.

Nachdem ich vermutlich an jedem einzelnen Aussichtspunkt Fotos gemacht hatte, setzte ich die Tour fort über Wiesen und durch Wälder. Nach einer Weile öffnete sich der Wald und gab den Blick frei auf einen mächtigen, weißen Turm. Ich hatte die Hohe Warte erreicht. Um Kräfte zu sparen schenkte ich mir allerdings den Aufstieg, obwohl es sich sicherlich gelohnt hätte.

Ich streifte sattgrüne Felder, die im warmen Wind wie ein Meer wogten, kam durch einen Pferdehof und suchte mehr oder weniger dringend ein Plätzchen im Schatten, um Mittagspause zu machen.

Die Hohe Warte

Doch ein Teerweg führte mich zunächst in der prallen Sonne entlang eines Zauns, hinter dem sich, was ich erst mit zunehmender Höhe sehen konnte, ein riesiges, rundes Wasserbecken befand. Ich hatte das Oberbecken des Pumpspeicherwerks Glems erreicht, fand ein schattiges Plätzchen und machte mich über meine morgens gekauften Leckereien her.

Weiter geht’s

Gut 20 Minuten später brach ich wieder auf, umrundete das Becken weiter und gelangte zu einem Aussichtspunkt, von dem ich das Pendant zum Oberbecken im Tal sehen konnte, und später den Ausblick auf Eningen mit seinem markanten Hügel bestaunte. Eine lange Allee entlang führte mich der Weg erneut durch einen Hof, auf dem Miniponys in der Sonne grasten und dösten und nach einem langen, staubigen, aufgeheizten Schotterweg geradeaus hätte ich es ihnen gerne gleich getan.

Long way to go …

Die Etappe ist jedoch wirklich abwechslungsreich gestaltet und der nächste Waldweg kam und brachte Schatten mit. Schatten, Aussichtsfelsen, eine nicht mehr existente Burgruine und merkwürdige Geräusche, die sich ein paar Hundert Meter weiter als das Pfeifen einer Schleppleine im Wind herausstellte, die einen Segelflieger in die Höhe gezogen hatte. Ich umrundete den Flugplatz Übersberg, um auf dem folgenden großen Spiel- und Grillplatz in eine ausgelassene, laute türkische Feier mit 100 Autos und gefühlt fünf Mal so vielen Menschen zu geraten.

Ich ließ das Spektakel hinter mir und erreichte bergab über Wiesenwege und plötzlich wieder völlig allein auf weiter Flur den Ort Holzelfingen. Über die Burg Greifenstein führte der schmale Waldweg immer am Grat entlang, belohnte mit Ausblicken ins Tal und machte für mich die zweite Etappe zu der wesentlich schöneren meiner beiden Touren.

Malerisch aber gefühlt endlos …

Mit Blick auf die Uhr und dem Wissen, dass mein „Taxi“ bereits im Anflug auf Honau war, legte ich einen Zahn zu. Doch der Weg wollte kein Ende nehmen, führte sachte bergauf und bergab, links- und rechtsherum am Berg entlang aber gefühlt immer weiter und weiter. Irgendwann entdeckte ich ein kleines Holzschild mit der Aufschrift „Sonnenweg“, der nach Honau hinabführte. Ein Abstieg, der sich dank des Regens in den Wochen davor als recht abenteuerlich erwies, weil der Kies den Hang hinabgerutscht war und der Weg als solcher nicht immer sofort zu erkennen war.

Ich musste mich ein letztes Mal konzentrieren, um nicht auf den letzten Metern noch auf dem Hintern zu landen, aber irgendwann öffnete sich auch dieser Weg, wurde breiter, mündete in einen geteerten Fahrweg und führte mich schließlich aus dem Wald heraus direkt in ein Honauer Wohngebiet, wo nicht nur eine Bank stand, sondern wenige Augenblicke später auch mein Abholer.

Ich sage euch: Gepolstert in einem klimatisierten Auto zu sitzen – man unterschätzt den Genuss viel zu oft. 🙂

Fazit nach zwei Albsteigetappen

Mein Fazit? Albsteigwandern ist toll, allerdings eher für geübte Wanderer mit Ausdauer und ausreichend Kondition. Sowohl die Streckenlängen als auch die Steigungen sind nichts für Spontanentschlossene, die sonst maximal sonntags zwei Kilometer durchs Wohngebiet flanieren. Die erste, also die 9. Etappe, hat durchaus auch ihre schönen Seiten, mein Highlight war aber definitiv die 10. Etappe, die ich gerne noch einmal wandern würde, gerne auch in Gesellschaft.

Apropos Gesellschaft: Ich kann jedem wirklich ans Herz legen, auch mal alleine wandern zu gehen. Ich hatte eine Bank dabei, aber mein Handyakku hat mich nie im Stich gelassen. Die Netzabdeckung war überall ausreichend, so dass ich im Bedarfsfall hätte Hilfe rufen können. Die Beschilderung war grandios gut, ich musste nur einmal inmitten eines Hofes kurz in zwei Richtungen suchen, wo das nächste Schild mit rotem Dreieck hängt, ansonsten war der Weg immer klar und gut zu finden. Wer Spaß an Ausdauertouren hat, dem kann ich den Albsteig wirklich ans Herz legen, die zweite Etappe war inklusive Abstieg nach Honau gut 28 Kilometer lang. Mehr hätte ich dann auch nicht mehr gebraucht. Und ja, man kann auch als Frau alleine unterwegs sein, ich hatte in den zwei Tagen mehr nette Gespräche mit völlig Fremden als in einer Woche im Job. Aber ein ungutes Gefühl hatte ich nie. Das Glück und das Freiheitsgefühl haben immer überwogen.

Von einer, die loszog … 52 Kilometer #Albsteig in zwei Tagen

Wandern, so weit meine Füße mich tragen: Bis vor ein paar Monaten hieß das für mich: nach 28 Kilometern ist Schluss, weil meine Füße zwar durchaus noch kooperativ gewesen wären, mein rechtes Knie allerdings aus der Wandergemeinschaft aussteigen wollte. Und jetzt lass mal ein einzelnes Knie irgendwo zurück … seit ich allerdings zu joggen begonnen habe, haben sich meine Knieprobleme in Luft aufgelöst. Vermutlich hat mein Körper einfach eingesehen, dass ich ziemlich stur am Konzept „Bewegung“ festhalte und mich Widerstand jedweder Art nur auf neue Ideen bringt.

Eine Frau, ein Rucksack, ein Plan

Eines Sonntagmittags stand ich im Garten und starrte in den blauen Frühlingshimmel, der mit weißen Wattewölkchen verziert war wie eine Schwarzwälder Kirschtorte mit Sahnetupfen. Und ich hatte spontan unbändige Lust, wandern zu gehen. Alleine, eine Frau, ein Rucksack, ein Ziel.

Ich googelte. Und fand schnell etwas, was wie eine Antwort auf meine Sehnsucht schien. Nämlich den ältesten Albvereinswanderweg in Deutschland, den HW1, auch bekannt als Albsteig. Ein paar Etappen kenne ich schon, also entschied ich mich für Etappe 9 und 10 und beschloss, in der Mitte zu übernachten. Die Strecke führte mich von der Burg Teck bis nach Bad Urach und von dort an Tag zwei bis nach Honau.

Gebucht, gesucht, geflucht …

„Geh doch nicht alleine“, wand mein Mann besorgt ein. Ich überlegte kurz. Schon oft war ich alleine auf unbekannter Tour. Noch nie hatte ich irgendwelche Bedenken dabei. Weder muss man mit Bären oder Schlangen in heimischen Gefilden rechnen, noch bin ich ansonsten blauäugig unterwegs. Aber weil die Aussicht auf vergnügliche Stunden in Gesellschaft durchaus ihren Charme hatte, begeisterte ich eine Freundin für die Touren. Wir entschieden uns für ein Wochenende im Juni und buchten ein Hotel.

Und ab da machte das Leben seinen eigenen Plan. Die Freundin wurde in der Woche vor es losgehen sollte von Corona erwischt. Nach dem ersten Tief beschloss ich, das Hotel nicht zu stornieren, denn das Wetter sollte mehr als gut werden. Notfalls wollte ich eben doch allein gehen. Aber ich fand spontan eine Ersatzbegleitung. Zumindest bis zum Morgen des ersten Wandertags, denn auch hier war ein Infekt stärker als die Wanderlust… Und so wurde aus dem ganz am Anfang geplanten Solo-Trip … eben genau das.

Das „Gepäck“

Ich packte das (für eine eitle Frau) minimalste Gepäck zusammen, das da bestand aus Zahnputzzeug, Duschgel, Shampoo und Spülung, Kontaktlinsenreiniger und Wechselwäsche.

Los geht’s!

Und ab da stapfte ich fröhlich dem roten Dreieck auf den Wegweisern hinterher, mit dem der Hauptwanderweg 1 gekennzeichnet ist. Hinunter vom Burgberg der Teck und hinein in das Örtchen Owen. Ich spazierte an Stationen eines geschichtlichen Rundwegs vorbei, streichelte fremde Katzen, bestaunte im Wind flatternde Wäsche und fühlte mich völlig in meinem Element.

Erst ging es hinunter …
… und dann wieder hinauf.

So etwa, bis ich die Bahngleise überquert hatte, denn erst führte mich der Weg entlang derselben durch die pralle Mittagssonne, um dann steil anzusteigen und gefühlt nie mehr enden zu wollen. Ich schnaufte an älteren Paaren vorbei, die auf ihren Grundstücken Unkraut zupften, ich schnaufte an Männern auf dem Rasentraktor vorbei, ich schnaufte an großen Mähmaschinen vorbei. Zwischendurch schnaufte ich auch an einem anderen Wanderer vorbei, der fröhlich pfeifend und mit großen Schritten bergab ging. Aber hauptsächlich schnaufte ich. Und verfluchte den Weg hinauf auf die „Baßgeige“ und meine Sturheit, mich auf so einen Höllentrip überhaupt eingelassen zu haben und warum ist es ÜBERHAUPT SO SCHEISSE HEISS.

Die Teck im Hintergrund und das Örtchen Owen von oben.

Als ich endlich oben angekommen war, begegnete ich einem älteren Pärchen, das ebenso wie ich den gelben Wegweiser ins Visier genommen hatte. „Kommen Sie von ganz unten?“ wollte der Mann wissen. Ich nickte, noch immer atemlos. „Sind Sie ganz alleine?“ fragte seine Frau.

Sie wollen bis nach Buxte.. Urach?

Ich erklärte den beiden, woher ich komme und wohin ich noch (ja allein, ganz allein) zu wandern gedenke. „Sie wollen BIS NACH BAD URACH?“, fragte mich die Dame ungläubig und kurz überlegte ich, ob ich versehentlich Buxtehude gesagt hätte, aber nein, sie drehte sich zum Wegweiser um und las „Bad Urach, 17 Kilometer“ vor. Das freundliche Angebot, mich ein Stück mit dem Auto mitzunehmen, lehnte ich lachend ab. Was sind schon 17 Kilometer.

Erst kam der Wald, dann der Wald und dann noch mehr Wald

Und in der Tat – auf der Ebene sind 17 Kilometer ein ausgedehnter Spaziergang. Und so spazierte ich durch lichte Buchenwälder, bis ich plötzlich in unmittelbarer Nähe Stimmengewirr hörte. Ich trat aus dem Wald heraus und fand mich in einer Gruppe Gleitschirmflieger wieder. Bunte Fallschirmseide in allen Farben wurde auf dem Boden ausgebreitet und zurechtgezuppelt, einer nach dem anderen ließ sich mit Anlauf über die Bergkante hinausgleiten.

„Ich heb ab … nichts hält mich am Boden …“

Erst nach einer Viertelstunde Zuschauens konnte ich mich losreißen und setzte meinen Weg fort. Und fand mich kurz darauf wieder im dicht belaubten Wald wieder. Und dann … wurde es ein wenig mühsam. Der Weg mäanderte sachte durch einen dichten Laubwald. Und mehr passierte auf den kommenden zehn Kilometern nicht mehr. Ich folgte Rechtskurven, ich folgte Linkskurven, ich begann Selbstgespräche zu führen und vermisste ein klitzekleines bisschen jemanden, der sinnvoll antwortet.

Irgendwann verlor ich spürbar an Höhe und war mir sicher, das Ziel fast erreicht zu haben. Auf dem Weg nach unten führte ich erneut Gespräche mit einer Fremden, erklärte woher und wohin und wiederholte, dass ich wirklich ganz allein unterwegs war. Ja, als Frau. Einfach so.

Bad Urach, erstes Etappenziel erreicht …

Durch die Bäume entdeckte ich schließlich die ersten Dächer von Bad Urach, folgte instinktiv dem Touristenstrom in die Stadtmitte, bestaunte die vielen Fachwerkfassaden und ärgerte mich ein bisschen, dass ich weit und breit keine Eisdiele erspähte. Als ich jedoch mein Hotel gefunden hatte und um die Ecke bog – stand ich vor einer Eisdiele mit gefühlt 100 Sorten bunten Eisbergen in der Auslage, von denen „Ricotta-Feige“ noch einer der weniger exotischen war. Und da das Hotel erst eine halbe Stunde später öffnete, genoss ich die Bank im Schatten und drei Kugeln Eis mit Sahne. Die ersten 24 Kilometer waren geschafft. Und ich gleich mit. Wohl wissend, dass am Tag drauf deutlich mehr Höhenmeter und auch eine längere Gesamtstrecke auf mich warteten…

Mein Fazit der neunten Albsteigetappe

Die Etappe ist am Anfang ein bisschen zäh, der Weg führt zwar durch ein nettes Örtchen, aber dann entlang der Bahngleise von Owen und weiter ohne Schatten (was im Sommer anstrengend sein kann) recht steil bergan. Im Wald hat der Weg durchaus Charme. Insgesamt war mir der Abschnitt gegen Ende durch den Wald zu wenig abwechslungsreich, wofür aber niemand was kann. Die Aussichtspunkte hinüber zur Teck und zum Hohenneuffen sind natürlich eine Belohnung, aber auch diese sind am Ende Mangelware. Bad Urach hingegen ist ein schöner Etappenzielpunkt, der sogar ein Thermalbad böte. Ich war am Ende des Tages einfach froh über eine Dusche, eine Pizza und ein Bett. 🙂 Würde ich die Strecke nochmal laufen? Eher nicht.

Es läuft und es läuft ganz schön gut!

Es ist morgens, viertel vor sieben. Ich sitze auf meinem Balkon mit einem Kaffee in der Hand und einem Glas Wasser auf dem Tisch (dazu später mehr) und lausche dem monotonen Gesang eines Gartenvogels, der offenbar schon wichtige Mitteilungen an die übrige Vogelwelt zu überbringen hat. Ich trage – eine Sporthose und ein Funktionsshirt und betrachte versonnen die seitlichen Wadenmuskeln meiner Beine, die auf dem Stuhl gegenüber liegen und sich beim Anspannen deutlich abzeichnen.

Wer bis hier her gelesen hat und mich kennt, weiß spätestens jetzt, dass in dem unverbloggten letzten Jahr (how did that happen?) einiges passiert sein muss in meinem Leben. Zu allererst: Nichts Schlimmes, was in Pandemiezeiten ja schon mal nicht schlecht ist.

Und dennoch – nachdem ich zwei Jahre lang 1000 Extra-Kilometer pro Jahr gewandert und spaziert bin, beschloss ich eines dienstags, jetzt joggen zu lernen. Und während ich das schreibe, wird mir einmal mehr bewusst, wie gut das Leben es mit einem meint, wenn man dienstagnachmittags beschließen kann, jetzt etwas zu ändern, einfach so.

Kurzer Rückblick: Vor knapp 20 Jahren bin ich mit meinem Mann zusammengezogen. Damals beschloss ich, nun, da ich so im Grünen wohne, sportlich zu werden und joggen zu gehen. Ich suchte mit einen Lauflernplan im Internet, schnürte Turnschuhe und rannte los.

Ich erinnere mich gut, dass ich am Ende dieses Nachmittags tränenüberströmt auf einem Bänkle saß. Weil ich es einfach nicht konnte. Der Plan sagte, zwei Minuten laufen, zwei Minuten gehen. Nie zuvor waren zwei Minuten so lang gewesen wie in der Laufphase, nie so kurz wie in der Erholungsphase. Völlig frustriert stapfte ich nach Hause mit der Gewissheit, dass alle, die mir immer gesagt hatten, ich sei halt unsportlich, wohl Recht hatten. Ich habe nie wieder einen Versuch unternommen, laufen zu gehen.

Wohl aber merkte ich viele Jahre später, dass ein bisschen mehr Bewegung durchaus gut wäre. Ein Schrittzähler machte mir schonungslos klar, dass der Drucker im Büroflur gar nicht so weit weg ist, wie ich immer dachte. Auf mehr als 3000 Schritte kam ich nie, was mich zunehmend fuchste. Also setzte ich mir das Ziel, 1000 Kilometer im Jahr zu laufen. Über die App von adidas stellte ich den Zähler auf 1000 und spazierte los. Im ersten Jahr absolvierte ich die letzten Kilometer am Silvestermorgen. Im Jahr drauf schaffte ich 1111, im Jahr danach über 1200.

Und dann kam der Oktober 2021. Ich hatte wieder einmal diesen Traum geträumt, den ich ein- oder zweimal jährlich träume: Ich jogge leichtfüßig in einer großen Stadt auf Kopfsteinpflaster um Pfützen herum an einer Bushaltestelle vorbei, wo eine ältere Dame sitzt und mich freundlich grüßt. Diese Sequenz ist schon alles, aber sie tauchte jahrelang immer wieder in meinen Träumen auf.

Und so beschloss ich an einem Dienstag im Oktober, jetzt joggen zu lernen. Ich fand einen Laufplan (es war derselbe wie vor 20 Jahren, btw), zog mich um und verließ das Haus. Unsere Straße ist ziemlich lang und ebenerdig und offenbar hatte die Bewegung der letzten Jahre mehr bewirkt, als ich gedacht hätte – ich konnte 2 Minuten durchlaufen (und war dann trotzdem dankbar für 2 Minuten Pause). Ich lief die Straße rauf und runter wie eine Bekloppte, allerdings ohne mich zu fragen, was die Nachbarn von mir denken. Es hat durchaus Vorteile, nicht mehr Anfang 20 zu sein.

Ich lief eine Woche, eine zweite Woche, steigerte meine Intervalle. An 6×4 Minuten hatte ich lange zu kämpfen, dafür gingen 4×6 Minuten dann gut und plötzlich konnte ich zehn Minuten am Stück laufen. Nach etwas mehr als vier Wochen. Und nach etwa anderthalb Monaten lief ich eine halbe Stunde am Stück. Langsam zwar, aber konstant und durch. .

Ich hatte mir selbst bewiesen, dass man auch eigene Glaubenssätze hinterfragen darf und dabei erstaunliches entdeckt. Ich lief dreimal die Woche, stur, bei Wind und Wetter, bei Kälte und Schnee. Ich biss oft genug die Zähne zusammen und verfluchte die Alb, auf der es ständig buckelauf und buckelab geht. Aber ich lief weiter. Ich bekam Bluetooth-Headphones zu Weihnachten und deckte mich mit schönen Sportklamotten ein, ich habe mittlerweile zwei Paar Laufschuhe verschlissen, das Dritte wird demnächst aussortiert. Ich habe Kondition aufgebaut und sie dank einer Coronainfektion auch wieder eingebüßt und ein zweites Mal aufgebaut. Ich laufe mittlerweile mit Freude und denke nicht mehr ans Sterben dabei, sondern an … allerhand. Ich laufe, ohne zu merken, dass ich laufe. Es ist einfach nur gut und ich bin stolz, dieses ganz persönliche Level freigeschaltet zu haben, das ich nicht mehr missen möchte.

Ansonsten – wenn ich nicht gerade laufe – hat mir in den letzten Wochen eine Blasenentzündung einen unfassbaren Aha-Effekt beschert. Die Erkenntnis ist so banal, dass es sich für jeden normalen Menschen völlig albern anhören muss, nicht aber für mich. Nämlich: Trinken ist wichtig. Sagt die Frau, die täglich mit Disziplin maximal auf einen Liter Flüssigkeit gekommen ist, eher auf weniger.

Sagt die Frau, die sich in der Apotheke anhören musste, dass sie bitte zu den Tabletten drei Liter am Tag trinken müsse. Sagt die Frau, für die drei Liter etwa Badewannenvolumen ist und die es trotzdem geschafft hat. Und damit nicht nur die Blase wieder ins Lot bringen konnte, sondern ganz viele Alltags-Mimimis beseitigt hat. Nämlich die Mittagsmüdigkeit nach dem Essen, die Kopfschmerzen am Rechner, die Mattigkeit an manchen Tagen, die Nulltoleranz gegenüber Temperaturen über 27 Grad … seit ich morgens zum Kaffee gleich ein großes Glas Wasser trinke und bevor ich aus dem Haus gehe ein weiteres, schaffe ich locker zwei Liter täglich und es geht mir so viel besser! Wie gesagt, trinken ist enorm wichtig, wer’s nicht wusste, gern geschehen.

Und sonst noch? In vier Wochen sind Sommerferien in Ba-Wü, wir sehnen sie alle herbei. In sieben Wochen habe ich Urlaub, auch darauf freue ich mich. Der Job ist noch immer das, wofür mein Herz schlägt, die Kollegen sind Zucker. Die Umstände allerdings haben sich zugespitzt, wir werden immer weniger, die Belastung, die jeder Einzelne dabei stemmen muss, wird immer größer. Der Spaß am Tun bleibt dabei oft auf der Strecke. Ein Zustand, den ich mit mir selbst nur schwer vereinbaren kann, mal sehen, wie’s da weitergeht.

Und ihr so? Was hab ich verpasst?

Von Träumen, Plänen und dem Warum-Warten

Midlife-Crisis ist ein hässliches Wort. Es klingt nach ersten Falten, nach Frust über Alltagstrott und dem sehnlichen Wunsch, alles nochmal neu anzufangen. Und macht den Status dessen, der sich angeblich in jener Lebensmitte-Krise befindet, zu etwas bemitleidens- und hämisch belächelnswertem.

Ich will nicht behaupten, in einer Krisenphase angekommen zu sein, denn ich war gerne 40 und bin gerne 41 und finde, dass sich das Leben im Moment geradezu vor mir ausbreitet. Nichts scheint unmöglich, viele Optionen, die es bisher nie gab, sind plötzlich einfach da. Das fühlt sich zwar tatsächlich neu an, aber keineswegs nach Krise. Es sind vielmehr Midlife-Chances, aus denen man schöpfen kann. Mit 41 weiß man nicht nur, was man kann und wer man ist, man weiß auch, dass man sich neu erfinden kann, wenn einem danach beliebt. Man ist (im besten Fall) finanziell nicht mehr auf Studi-Niveau, sondern hat (im besten Fall) die Möglichkeit, in sich und andere zu investieren. Und wenn’s nur in das Wolfsbarschfilet mit Gemüse auf der Sonntagskarte des Lieblingsitalieners ist. Einfach so, weil lecker.

Und während ich also mit großer Freude mein eigenes Altern beobachte, geschehen Dinge. Beruflich läuft es immer solider, ich habe gelernt, mit Nachdruck für mich und meine Bedürfnisse einzustehen. Wer Leistung bringt, darf auch mal fordern. Ich bin nach wie vor jeden Tag dankbar für den schönsten und spannendsten Beruf der Welt, lege mich mit Verve mit Ministerien an, nerve die Pressesprecher dieser Welt und grabe so lange, bis ich weiß, was ich wissen will. Mittlerweile liegen viel mehr gute Geschichten auf meinem Schreibtisch, als ich abarbeiten kann. Ich habe beschlossen, davon die Rosinen rauszupicken, weil ain’t nobody got time for langweilige Aufmacher. (Was nicht heißen soll, dass ich hin und wieder auch Dinge schreibe, die nicht pulitzerpreisverdächtig sind, aber so grundsätzlich.)

Vielleicht bedeutet Ü40 einfach nur, dass man über die Phase hinaus ist, in der das Leben endlos und irgendwie planlos scheint. Damit wir uns nicht falsch verstehen, es erscheint mir auch mit Ü40 noch sehr endlos (und manchmal ist planlos ganz wunderbar), aber manche Abschnitte sind einfach vorbei. Das wurde mir bewusst, als ich an einem Samstagabend nach elf noch in einer fancy Rooftop-Bar saß zwischen sehr viel rotlippigen, makeupgetränkten, chanelumwehten jungen Frauen in Kleidchen, die bei intimissimi als Nachtwäsche verkauft werden.

Nichts gegen Make-up und Chanel, aber wenn man an der Bar sitzt und an seinem hippen Eistee nippt und den Abend staunend und beobachtend eher für Sozialstudien nutzt, statt beim anderen Geschlecht seinen Marktwert abzuchecken oder einfach möglichst auffallend hip zu sein, hat man eine magische Grenze offenbar unwiderbringlich überschritten. Was nicht schlimm ist, nur eben eine Tatsache. Time over. Gottseidank. Wolfsbarschfilet is the new Rooftop.

Was nicht heißen soll, dass Ü40 irgendwie träger ist. Im Gegenteil. Mir gelüstet es zur Zeit viel mehr danach, Dinge anzupacken. Pläne zu schmieden und einfach umzusetzen. Habe ich eine gute Idee für eine Geschichte im Job, hänge ich mich ans Telefon und fange an zu recherchieren. Habe ich die Möglichkeit, Bilder auszustellen, verschwinde ich eine Woche lang im Atelier und nutze jede Minute, um kreativ und produktiv zu sein. Und vielleicht hat mir jemand, der weiß, dass ich ihn beim Wort nehme, vollmundig eine Redaktionshospitanz in Palermo versprochen und ganz vielleicht habe ich daraufhin beschlossen, im Winter 2023 so fließend Italienisch zu sprechen, dass es daran nicht scheitert. Weil ain’t nobody got time for boring Aufmacher auch auf Sizilien gilt, schätze ich.

Dass man im Alter unflexibler wird, ist übrigens eine Lüge, das wissen wir seit Corona alle. Wir haben umdisponiert, uns neu orientiert und auf kurzfristige Änderungen noch viel kurzfristiger reagiert. Und wenn ein geplanter Urlaub ins Wasser fällt, wird er eben durch einen anderen ersetzt oder er fällt aus, ohne dass die Welt untergeht. Und wenn Planungen einfach aus vielen Gründen nicht möglich sind, dann lässt man es eben, denn mit jedem Lebensjahr gewinnt man die Sicherheit dazu, dass sich eh immer alles fügt. Und wenn nicht bei anderen, dann eben bei mir. Und wenn nicht sofort, dann eben morgen oder im November.

Man wird fatalistischer in vielen Dingen und lernt, dass einem das Leben nichts und alles schenkt. Nichts, weil man es nur schön hat, wenn man es sich schön macht. Und alles, weil man es schön hat, wenn man es sich schön macht. Das führte neulich dazu, dass ich vom Laufen kam und unter der Dusche stand und spontan Lust auf Irgendwas mit Garnelen hatte. Nur keine Garnelen. Weil die drei Tiefkühlschubladen in meiner Kühl-Gefrierkombination offenbar in Unkenntnis ihrer Selbst-Abtau-Möglichkeiten zu einem kühlen Grab für verschmähten Raclettekäse und was-da-wohl-drin-ist-Päckchen geworden waren, fand ich mich Minuten später in Unterwäsche und mit Handtuchturban auf dem Kopf vor dem offenen Gefrierschrank und föhnte statt meiner Haare knackende Eisbrocken weg. Was ich für eine Sache von optimistischen 20 Minuten gehalten hatte, dauerte am Ende knapp drei Stunden, was dazu führte, dass der Laden, der mir die Garnelen hätte verkaufen können, längst geschlossen hatte. Aber immerhin ist jetzt wieder Platz dafür und sobald mich die Lust auf Irgendwas-mit-Garnelen wieder packt, freue ich mich über die frostige Ordnung in meinen drei blitzblanken Schubladen. Lästige Dinge gibt es fortan nur noch dann, wenn ich ihnen das Attribut lästig verleihe. Und ganz ehrlich: Ain’t nobody got time for lästiges Zeug. Dann lieber mit Energie anpacken und gut ist.

Und weil meine gesamte Blase scheinbar auf Urlaub hinfiebert oder den Urlaub gerade genießt, habe ich beschlossen, es nicht zu tun. Weil ich kein Leben haben möchte, das nur drei Wochen im Jahr so richtig großartig ist, ain’t nobody got time for… ihr wisst schon. Das Jahr besteht aus 52 Wochen, die allesamt großartig sein sollten. Ohne Druck, es sein zu müssen, aber mit dem Bewusstsein, dass keine davon wieder kommt.

Wenn mir die Ü40-Zahl also etwas sagen möchte, dann „iss den Wolfsbarsch und das Törtchen, kauf die Highheels, geh Weitwandern, setz dir irre Ziele und hab Spaß dabei“. Klingt nicht nach Krise, oder?

Ich investiere jetzt. In mich.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht staunend neben meinem Kind sitze und förmlich höre, wie es in ihrem Kopf knistert, wie sie sich im Lockdown notgedrungen selbst neues Wissen erschließt, durch Wiederholungen verfestigt (und noch mehr Wiederholungen augenrollend ins Heft kritzelt). Auch ich kann mittlerweile das Jahreszeitengedicht fehlerfrei aufsagen (Oktober fährt Kartoffeln ein!) und das Zustandekommen eines Schaltjahrs erklären, ich kann Eck- und Zielsteine berechnen und bin mit Eulalia, Simsala und Bim auf Du und Du.

Und was soll ich sagen: Jetzt sitzt da ein kleiner Mensch und saugt Wissen in sich auf, stellt Zusammenhänge her, wendet gestern Gelerntes heute auf neue Aufgaben an und wächst und reift. Während ich daneben sitze und mache, was ich halt immer mache. Und doch nicht so ganz: Denn seit einigen Wochen habe ich ebenso Spaß daran gefunden, ein bisschen mit zu wachsen.

Und weil ich im Hunderterbereich echt schon sehr sicher rechne, habe ich mir andere Bereiche zum Lernen gesucht. Und beschlossen, dass eine Investition in eine Armani-Jacke zwar schön ist, aber eine Investition in mich selbst wesentlich nachhaltiger. (Btw: Die zweite Jacke passte dann nachdem KaDeWe wohl selbst nicht so recht wusste, wie man italienische in deutsche Größen umrechnen, Simsala und Bim sag ich da nur).

Ich habe also, wie neulich erzählt, ein Jahresabo eines Sprachmagazins abonniert. Und mich für ein weiteres Semester Italienisch angemeldet. Am Montag habe ich mir Zeit genommen, mal wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Selfcare ist eben mehr als Hyaluronmaske und Bodylotion und Duftkerzen. Denn neben all dem Pläne abarbeiten, einkaufen, kochen, alles um den Job im Homeoffice nebst Homeschooling Kind herumzubasteln und den Überblick nicht zu verlieren, brauchte ich dringend auch mal wieder Zeit für kreatives Schaffen.

Und je mehr ich über all das nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass die Zeit für eine Investition in mich selbst gerade wie prädestiniert ist. Ich bin bei weitem nicht so getaktet von außen wie in „normalen“ Zeiten, ich kann vieles entspannter angehen, allein die Fahrtwege, die ich mir gerade spare, ermöglichen so manches gelesene Kapitel mehr.

Stichwort lesen: Ich habe mir ein Buch zum Thema Recherche gekauft (und verschlinge es geradezu, weil die Beispiele darin sehr anschaulich sind und ich das Gefühl habe, an mancher der beschriebenen Schwellen auch schon mal gescheitert zu sein), und mich vom besten Kollegen der Welt von einem Seminar überzeugen lassen, das sich ums Auskunftsrecht für Journalisten dreht. Ich will gar nicht wissen, von wievielen Behörden ich schon abgefertigt wurde, ohne so richtig an die Antworten zu kommen, nach denen ich gefragt hatte. Ich bin sehr gespannt, wieviel schlauer ich nach dem Seminar bin.

Ähnlich geht es mir auch mit dem Thema Finanzen, ich ahne, dass es relativ viel gibt, was ich nicht weiß und irgendwie beunruhigt mich das. Ich habe mir also gleich auch dazu ein Buch gekauft („legen Sie ein Haushaltsbuch an. Wofür haben Sie in den letzten zwei Tagen Geld ausgegeben?“ „Bücher über Finanzen!“ Nein, Spaß, das Buch ist gut strukturiert, gut zu lesen und vermittelt die Kenntnisse, die mir fehlen. Beware, Wallstreet.) Denn nicht nur die berufliche Fortbildung bleibt im Alltag oft auf der Strecke (man schafft den ganzen Tag und irgendwann braucht man auch mal Abstand zum Job, auch wenn man ihn noch so sehr liebt), auch die eigene Altersvorsorge ist ein Thema, zu dem insbesondere Frauen keinen rechten Draht zu haben scheinen. Ich habe mich zwischenzeitlich in ETF-Sparpläne eingelesen, weiß, was der MSCI World ist und habe beschlossen, mich von dem Thema nicht länger schrecken und/oder langweilen zu lassen.

Es ist ein bisschen außerhalb meine Komfortzone, aber ich bin grad ganz gerne da draußen. Wer weiß, wie lange ich noch Zeit dafür habe, bevor mich der Alltagstakt wieder einholt.

Was habt ihr zuletzt für Euch getan, in Euch investiert, dazugelernt? Vielleicht ist da auch was für mich dabei?

Achtung, Badeverbot – oder: Die Sache mit der Struktur

Neulich, an einem Montagabend. Ich hatte frei, wie immer montags. Und gerade als ich mir Badewasser einlaufen ließ und mich auf eine Runde Abtauchen vor dem Italienischkurs im Schaum gefreut hatte, klingelte mein Telefon. Kurz: Der Chef, eine wichtige Sache, mein Themengebiet. Ich zögerte nicht lang, drehte das Wasser ab und arbeitete.

Tags darauf erwähnte ich in der morgendlichen Redaktionskonferenz in einem Nebensatz, dass ich für den Text meine Badewanne UND den Italienischkurs geschwänzt hatte. Ungläubige Gesichter. „Baden? An einem Montag?? Gebadet wird am Samstag“, hieß es da.

In dieser Woche habe ich dann natürlich nicht mehr an einem Montag gebadet. Sondern an einem Dienstag. Rebell kann ich ja voll gut. Und beim Baden dachte ich mir, wie schön es doch ist, gegen diese kleinen, anerzogenen, erlenten, geerbten Macht-man-so’s zu verstoßen. Manchmal haben wir vor lauter hat-man-immer-schon-so-gemacht gar keinen Grund, seine Sicht auf die Dinge zu hinterfragen. Mir ist schon klar, dass man am Samstagabend gebadet hat (Mama, Papa, dann die Kinder, alle in derselben Wanne), weil man das Wasser sparen und am Sonntagmorgen sauber in die Kirche wollte. Die Zeiten und die Rituale haben sich aber geändert. Bei vielen im Außen, bei nicht allen im Innen.

Ich bade also nicht, weil Samstag ist, sondern weil mir kalt ist, weil ich Rückenschmerzen habe, weil ich meine Ruhe brauche, weil mir danach ist. Montags im Winter, Mittwochs im Hochsommer, Dienstagmorgens weil ich’s kann. Intuitiv zu handeln fängt damit an, der inneren Stimme zu glauben, die uns sagt, wann wir Erholung brauchen, wann wir essen sollten, wann wir ins Bett gehen sollten. Wir pressen unseren Tagesablauf nur viel zu oft in eine von außen vorgegebene Norm (die getaktet ist von Arbeitszeiten, Kantinenzeiten, Fahrplänen, Kita-Öffnungszeiten, Stundenplänen, Freizeitterminen).

Und vielleicht genieße ich deswegen auch die Pandemie ein bisschen mehr, als manche glauben können: Ich lebe nach meinem Takt. Und nicht nur ich. Ich habe begriffen, dass mein Kind denselben Bioryhthmus hat, wie ich. Kinder brauchen Strukturen, das ist mir klar. Aber wir zwingen unseren Kindern einen straffen Plan auf, wie sie wann zu funktionieren haben. Und der geht an der Realität meiner Tochter eher vorbei.

Während sie, 2. Klasse, zu Schulzeiten um zehn vor sieben (6.50 Uhr!) aus dem Haus wankt, schlafen wir beide gerade um diese Zeit noch. Während sie sonst um 7.20 Uhr mit Mathe und Deutsch beginnt, wird es jetzt eher halb zehn. Und siehe da: Um diese Zeit ist sie nicht nur völlig wach und hat gefrühstückt, die Arbeit geht ihr auch besser von der Hand.

Sollte ich mich jetzt also stur an die Regel halten und das starre Zeitkorsett des normalen Lebens aufrecht erhalten, um dafür ein müdes und gereiztes Kind zum Homeschooling zu zwingen? (Zu Zeiten, wo noch nicht einmal ich so richtig da bin und statt „Tiere im Winter“ „Tiere im Wald“ gelesen hatte und mich noch über die aufgeführte Forelle gewundert hatte… wer kennt sie nicht, die Forstforelle…)

Ich habe beschlossen, dass das Leben wieder früher tickt, wenn es Zeit dafür ist. Und so lange lernt das Kind im Schlafanzug bis zum Mittagessen, weil es funktioniert. Und wegen mir übt es lesen auch in der Badewanne. Wenn ich nicht grad selbst drin liege, Donnerstagmorgens. Ihr versteht.

Von Weggabelungen, Menschen und dem Geheimnis des Schaltjahrs

Habt ihr euch schon jemals gefragt, so im Rückblick, wann ihr einmal abgebogen seid? Ob euch in dem Moment überhaupt klar war, dass ihr vor einer Weggabelung steht? Und wie sich die Geschichte entwickelt hätte, wenn ihr die Bewerbung für den Job abgeschickt (oder nicht abgeschickt) hättet? Wenn ihr Euch nicht den Arm gebrochen und deswegen die Ferien nicht daheim verbracht hättet, wo ihr den tollen Typen im Park kennen gelernt habt, der heute Euer Mann ist? An wievielen Punkten entscheiden wir uns sogar ganz unbewusst für eine Richtung, die maßgeblich den Rest unseres Lebens prägt? Und ist es überhaupt gut, sich im Nachhinein Gedanken zu machen, was gewesen wäre, wenn?

Grundsätzlich halte ich es für müßig, an nicht gegangene Wege auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden. Man weiß ja nicht, ob die Firma, bei der man sich nicht beworben oder die einen nicht genommen hat, nicht ohnehin nicht das Gelbe vom Ei gewesen wäre. Und es im Urlaub nicht nur geregnet hätte. Oder man in Tokyo überfahren worden wäre. Hätte, hätte. Manchmal ist man doch im Nachhinein auch froh, sich für x statt für y entschieden zu haben und ein bisschen hat das auch was mit Schicksal zu tun.

Ich erinnere mich gut an die geplante Kreuzfahrt, die schon so gut wie gebucht war, auf die wir uns schon richtig gefreut hatten. Als mein Schwiegervater dann aber am Herzen operiert werden musste, genau in dieser Woche, verzichteten wir auf den Urlaub, um daheim zu bleiben und ihm beizustehen. Für mich ist das noch immer der beste Beweis dafür, dass nichts ohne Grund geschieht. Denn das Schiff, auf dem wir den Urlaub buchen wollten, war die Costa Concordia, die in jener Woche vor der Insel Giglio sank und etliche Passagiere in den Tod riss. Ja, so hab ich an dem Abend auch geguckt, als ich wie vom Donner gerührt vor den Nachrichten saß.

Doch so sehr ich an eine gewisse Bestimmung glaube, so sicher bin ich mir auch, dass man das anzieht, worauf man sich konzentriert. Wenn man davon ausgeht, dass man immer den Kürzeren zieht, den Job eh nicht kriegt, immer Single bleibt, nie Kochen lernen wird, die Prüfung eh versemmelt, desto sicherer wird genau das auch eintreffen. Die Psychologie spricht von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, man will nämlich tief drin einfach immer Recht behalten. Siehste, hab ich ja gleich gesagt.

Wer sich einredet, zu blöd zum Autofahren (oder Rückwärtseinparken) zu sein, wird durch die Prüfung fallen (und sehr lange nach großen Parklücken suchen). Wer sich im Spiegel immer hässlich findet, wird Unsicherheit und Minderwertigkeit ausstrahlen, jemand, der sich selbst nicht für den Richtigen hält, wird auch das Gegenüber im Vorstellungsgespräch nicht davon überzeugen können. Im Umkehrschluss heißt das übrigens aber auch, Du kannst sein, was Du sein willst, Du musst nur mit Hingabe den Fokus auf dein Ziel richten und nicht wie so ein Lemming ans Scheitern glauben.

Und, liebe Eltern, wer seinem Kind immer nur sagt, was es alles nicht kann und wofür es nicht gemacht ist, zieht einen Erwachsenen heran, der später einmal gegen alte Glaubenssätze ankämpfen und mühsam herausfinden muss, was er alles verpasst hat. Das richtige Mindset ist also: Du kannst das und wenn Du es können willst, dann lernst Du es.

Nicht nur Situationen fordern dich plötzlich heraus, manchmal frage ich mich auch, warum manche Menschen in unser Leben purzeln. Man sagt ja, die einen kommen als Freunde, die anderen als Lehrer. Und auch da ist was dran. Das Rumpelstilzchen hat mir gezeigt, wo meine Schwachstellen sind – ich lasse mich enorm von Ungerechtigkeit triggern, von haltlosen Vorwürfen. Nicht unbedingt eine Schwäche, sich gegen Ungerechtigkeit einzusetzen ist ja nicht verkehrt. Aber wie man mit solchen Vorwürfen umgeht, hat man ganz allein selbst in der Hand. Ich habe gelernt, dass es bis zu einem gewissen Grad sinvoll, richtig und notwendig ist, sich mit Kritikern auseinander zu setzen. Wenn es sich aber nach selbstkritischer Prüfung wirklich nur um haltlose und unverschämte Vorwürfe dreht, darf, nein, muss man sogar souverän einen Cut machen. Das Rumpelstilzchen hat mich also gelehrt, diese rote Linie für mich besser zu definieren. Loslassen muss man üben.

Menschen kommen in Dein Leben und zeigen Dir, manchmal schmerzhaft, manchmal zu Deiner großen Verblüffung, was Dir selbst von Dir bisher verborgen geblieben ist. Sie kitzeln Facetten an Dir heraus und bringen sie zum Strahlen, lehren Dich, wer Du in den Augen anderer sein kannst und halten Dir einen Spiegel vor. Sie stoßen Prozesse an, sie prägen sich, sie verändern Dich. Und manchmal gehen sie genauso lautlos wieder. Dann hast Du Deine Lektion offenbar gelernt. Sag leise Danke, aber halt sie nicht fest. Wer will, bleibt von selbst. What flows, flows. What crashes, crashes. Ich übe mich also darin, klug genug zu sein, den Lehrer und seine Aufgabe in meinem Leben zu erkennen, offen genug zu sein, dem Freund einen Platz in meinem Leben einzuräumen. Und weise genug zu sein, den einen vom anderen zu unterscheiden.

On a less philosophical note: Heute festgestellt, dass wir ein Homeschooling-Luxus-Lotterleben führen. Das Kind arbeitet diszipliniert und weitestgehend fehlerfrei, wir hatten heute nicht mal Zoff (dabei bin ich eine verdammt schlechte und ungeduldige Lehrerin, was der Grund dafür sein könnte, dass ich nie Lehrerin werden wollte). Und im Gegensatz zu anderen Müttern, die vier Kinder in zwei Schulen, einen Job im Homeoffice und das ganze restliche Familienleben wuppen müssen, hab ich mit meinem Einzelkind und zwei freien Tagen in der Woche irgendwie das Gefühl, gar nicht so richtig mitreden zu dürfen, wenn’s um „mental load“ geht. Aber man muss ja jetzt auch nicht überall im Leben die volle Packung abkriegen, ne?

Sonst so: Spaghetti mit Shrimps gekocht, dem weiblichen Teil der Familie die Nägel lackiert, einen Arm voll Tulpen beim Gärtner abgeholt und dem Kind mit einem Luftballon, einer Taschenlampe, einem Stuhl und einem veritablen Drehschwindel erklärt, wie ein Schaltjahr zustande kommt. Für heut ist Feierabend.