Gedanken zum Donnerstag – der soziale Akku

„Mein sozialer Akku war einfach leer“, sagte eine Lieblingskollegin neulich und beschrieb das Gefühl, sich jetzt sofort einfach zurückziehen zu müssen, um nicht am Rad zu drehen. Ich hörte ihr zu und wusste im selben Moment ganz genau, wie sie sich gefühlt hatte. Der soziale Akku – die Energie, die uns mit anderen interagieren lässt, uns zuhören, kommunizieren, mitdenken lässt. Und das nach Möglichkeit nicht nur auf der passiven Seite, sondern auch noch eloquent, witzig, geistreich, empathisch. Ich habe mich sofort verstanden gefühlt, allerdings ist mir das schöne Bild mit dem Akku noch nie in den Sinn gekommen.

So sehr ich meinen Beruf liebe, der mich jeden Tag mit Menschen zusammenbringt, so sehr mag ich auch die Abkehr von allem. Mir begegnen, ob ich möchte oder nicht, freundliche Menschen, unfreundliche Menschen, genervte Menschen, fordernde Menschen, unzufriedene, kritisierende, egozentrische. Natürlich auch sehr viele nette. Die besten Kollegen habe ich ohnehin.

Und dennoch ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich abends nach einem wuseligen Redaktionsalltag ins Auto steige, die Musik leiser drehe und froh bin, dass ich endlich stumpf vor mich hindenkend (gerne an nichts), alleine so rumsitzen und fahren kann. Manchmal ertrage ich dann sogar nicht mal mehr einen Nachrichtensprecher, weil ich das Gefühl habe, ich müsste ihm der Höflichkeit halber zuhören. Geht aber nicht mehr, Akku leer, Kopf voll.

Und während ich so über den sozialen Akku nachdachte, fiel mir Corona ein. Wenn man versuchen möchte, einer Pandemie irgendetwas Gutes abzutrotzen, bei all ihrer Schrecklichkeit und dem Leid, das sie über viele gebracht hat, dann, dass es eine Zeit des nichts-müssens war. Von jetzt auf gleich waren alle Termine weggefallen. Weder gab es in der Redaktion Pressegespräche noch gab es Ausstellungseröffnungen, Konzerte, Gemeinderatssitzungen in Präsenz oder Theaterabende, noch wurde man zu Geburtstagen oder Jubiläen oder Grillfesten eingeladen, ging nicht in den Italienischkurs und nicht in den Klavierunterricht.

Nicht falsch verstehen, all das ist schön und hat seine Berechtigung und hat vielen auch gefehlt. Aber wenn ich ehrlich bin – diese plötzliche Freiheit, die Freizeit wieder ganz neu verplanen zu können, sich fürs Innehalten nicht rechtfertigen zu müssen und nicht als langweiliger Stubenhocker zu gelten … ein bisschen vermisse ich sie schon. Und ein bisschen erinnere ich mich mit Wehmut an sie, wenn ich den privaten und beruflichen und schulischen Terminkalender übereinanderlege und sehe, wie die Lücken zwischen Pflicht und Kür plötzlich wegschmelzen. Wie mein Hirn mir vorrechnet, dass ich am Mittwoch hier und am Donnerstagabend dort sein muss und am FREITAG erst…

Und alle, die jetzt sagen, ja aber der Mensch ist doch ein soziales Wesen, Corona hat viele auch in Depressionen versinken lassen – völlig richtig. Aber halt nicht jeden. Ich war so gerne mit mir und meiner Familie alleine und habe nicht einen einzigen Tag gedacht, jetzt wär ich gern in einem vollen Freizeitbad. Womöglich gehöre ich zu dem Schlag Menschen, die sich selbst sehr gerne mögen und sehr gut mit sich allein sein können. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mit Freude alleine wandere oder jogge – wandern gern auch in Gesellschaft, geht aber auch gut als me, myself, the Rucksack and I.

Weil es aber natürlich durchaus stimmt, dass Menschen nicht für ein Eremitendasein gemacht sind und ich keinesfalls riskieren möchte, zur schrulligen alten Frau zu werden, die mit dem morgendlichen Müsli die besten Gespräche führt und mit dem Postboten nur noch nickend durchs geschlossene Fenster kommuniziert, sehe ich zu, dass ich meinen Akku in ruhigen Zeiten randvoll auflade, um dann kommunikativ, unterhaltsam und witzig zu sein, wenn es gebraucht wird. Vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens ein introvertierter Mensch, für den das Mit-sich-sein der Normalzustand ist und soziale Interaktion die Besonderheit. Ich wähle daher mit großem Bedacht aus, wer mir auf den Akku gehen darf. Und die richtigen Menschen geben ohnehin immer ein bisschen mehr Energie ab, als sie ziehen. Und die sind immer willkommen.

Gedanken zum Montag – Tausend Jahre

Als neulich das Gespräch im Bekanntenkreis auf alte Fernsehsendungen kam, sagte jemand „kennt ihr noch die Serie ‚Es war einmal der Mensch‘?“ Da war dieser weise Mann mit dem langen Bart, der Sägen, Bücher und ganze Einbauküchen aus selbigem ziehen konnte, und diese vielen kleinen Helferlein, die erklärten, wie der menschliche Körper von innen aussieht und funktioniert. Irgendwann summte jemand die Titelmelodie von Udo Jürgens dazu: Tausend Jahre sind ein Tag.

Das Lied, beziehungsweise diese Zeile, begleitet mich seither, denn mittlerweile gehöre ich wohl dank etwas fortgeschrittenen Alters auch zu denen, die ständig betonen, wie schnell die Zeit doch plötzlich vergehe. Vermutlich ist das was Genetisches, das automatisch mit dem vierzigsten Geburtstag aktiviert wird. Grade noch in den Tag hineingelebt, zack, „Kinder, wie die Zeit vergeht“. Grade noch war Silvester, dann haben wir uns über den fehlenden Schnee im Januar (Kind wollte doch endlich Skifahren) beklagt, ich bin so doof aufs Knie gestürzt (und überambitioniert zwei Tage später joggen gewesen), dass sich meine Patellasehne im linken Knie beleidigt enzündet hatte, dann hatte ich in der Redaktion Fasnetsdienst, dann war März und wir haben neue Fahrräder gekauft (und sind reihum einer fiesen Grippe erlegen), das Knie und ich waren endlich wieder Freunde, jetzt ist April und der ist auch schon wieder fast vorbei. Die Wochen, es scheint wirklich so zu sein, fliegen dahin.

Liebgewonnene Menschen sind aus meinem Leben gegangen, aus eigenen Stücken, im Zorn leider. Unnötigerweise auch. Ich habe leise die Tür hinter ihnen geschlossen, weil der Streit auf der Türschwelle nur dafür sorgt, dass es kalt wird. Und das möchte ich nicht. Aber auch hier – die Zeit lässt Gras wachsen.

Ich kann nicht verhindern, dass die Tage, Wochen, Jahre dahinrasen. Aber als ich neulich einem älteren Kollegen zuhörte, musste ich unweigerlich schmunzeln. Er sprach von Arbeitszeitmodellen und sagte mit einem süffissanten Unterton, dass er noch aus einer Generation stamme, in der work-life-balance ein Fremdwort war. Er sagte es so, als sei es eine seltsame Marotte der U-50-Belegschaft, überhaupt an ein Leben außerhalb der Arbeit zu denken. Teilzeit als eine Art eitler Verweigerung. Wer etwas auf sich hält, für den sind die 40 Stunden im Arbeitsvertrag lediglich eine Mindest-Empfehlung, die zu toppen gewissermaßen ehrenvolle Pflicht ist, will man seinen Job richtig machen.

Gesagt hat niemand etwas. Aber das innere Stirnrunzeln war förmlich zu hören. Vielleicht, dachte ich mir, haben sich die etwas jüngeren Kollegen die älteren „Vorbilder“ mit der Arbeitsmoral eines Zinnsoldaten genau angesehen. Und vielleicht konnte einfach niemand von ihnen etwas Erstrebenswertes darin finden, mit Mitte 30 an Bluthochdruck zu leiden und mit Mitte 40 einen latenten Burnout wie eine Lunchbox jeden Tag ins Büro mitzuschleppen.

Vielleicht machen die ihren Job viel richtiger, die ihre Kräfte nach eigenem Gusto richtig einteilen, sich Raum geben und nehmen, an anderen Stellen ebenso 100 Prozent zu leisten? Wer weiß schon heute, wie die Generation meiner Tochter mal arbeitet?

Denn die Zeit vergeht für uns alle gleich schnell. Und wie viel jeder von uns davon hat, weiß niemand. Die Frage, die jeder für sich beantworten muss, ist, was er mit der Zeit anfangen möchte, die ihm gegeben ist.

Ich habe vor einiger Zeit den Sport für mich entdeckt. Ich, die 40 Jahre lang glaubte, Sport sei etwas für andere Menschen. Ich würde nicht behaupten wollen, zu den ambitionierten Freizeitsportlern zu gehören, ich habe zum Beispiel keinerlei Lust auf Wettkämpfe oder darauf, mich mit anderen zu messen. Es geht mir dabei viel eher ums Zwiegespräch mit mir. Wenn ich laufe, wenn ich das richtige Tempo finde, laufen meine Gedanken auf wundersame Weise neben mir her, biegen ab, kehren zurück, machen Umwege, nehmen Abkürzungen, bringen mich auf freier Strecke zum Schmunzeln oder zum Grübeln. Wenn ich nach Hause komme, habe ich ein … sagen wir gut durchblutetes Gesicht, müde Beine und fühle mich wunderbar ausgepowert. Ganz ehrlich – selten hatte ein Tag in der Redaktion einen ähnlichen Effekt auf mich, wenngleich meine Kollegen für mich sowas sind wie eine Woche Ibiza in Personalform.

Gestern haben wir ein paar Kilometer mit den neuen Mountainbikes gedreht. Und da hatte ich ganz kurz das Gefühl, dass sich die Zeit auch zurückdrehen kann: Nämlich als ich johlend bergab über einen matschigen Waldweg schoss und geradeso zwischen zwei tiefen Pfützen hindurchgezirkelt kam. Ich hatte danach Hosenbeine wie ein Erdferkel und Herzklopfen vor lauter Adrenalin, aber … es war ein Glücksmoment, der mich gefühlt um Jahre zurückgeworfen hat.

Und ich glaube, in meiner altersbedingten Weisheit, dass ich diese Momente sammeln möchte. Diese Momente, an denen gefühlt die Zeit kurz stehen bleibt, die sich einbrennen in mein Hirn. Um dann auch wieder Kraft und Lust zu haben, die restliche Zeit am Schreibtisch alles zu geben.

Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Was ist Zeit?
Ein Augenblick
Ein Stundenschlag
Tausend Jahre
Sind ein Tag