Ich
An manchen Tagen fühle ich mich unfähig. Unfähig, richtig zu handeln, Dinge richtig einzuschätzen, richtig zu reagieren. Es scheint, als wäre mir das richtige Maß abhanden gekommen, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen, als hätte ich ein Abo aufs Schieflaufen gewonnen.
Nachdem der Nikolaustag so einer war, war heute besser. Begonnen hat mein Tag allerdings mit einem Schock. Ich hatte mich selbst morgens aus dem Bett argumentiert, redete mir auf dem Weg zwischen Schlafzimmer und Kaffeemaschine ein, dass heute ein neuer Tag sei und bestimmt alles besser laufen würde. Ich setzte mich seufzend mit einer Tasse Kaffee zu meinem Mann an den Küchentisch, der aufsah und mich mit einem amüsierten Blick bedachte. „Wasn?“, nuschelte ich. Und beobachtete aus dem Augenwinkel, dass er sein Handy auf mich richtete. „Nix“, schmunzelte er. „Du hast nicht grad ein Foto von mir gemacht, oder?“, wollte ich einigermaßen alarmiert wissen. „Guck selbst“, sagte er. Auf meinem Handydisplay ploppte eine Nachricht auf. Und das Foto, das sich dann öffnete, offenbarte das gesamte Grauen. Zu sehen war eine Frau, die seit drei Jahren obdachlos am Frankfurter Bahnhof unter Pappkartons schläft und mit Taschendiebstahl und schlimmerem ihre Chrystal-Meth-Sucht finanziert, die sie schwer gezeichnet hat. Die Haare standen ihr wirr und strähnig, fast elektrisiert vom Kopf ab, ein Auge war halb geschlossen und sah ein wenig geschwollen nach Veilchen aus, ihre Stirn hatte die Frau in sorgenvolle Falten gelegt, den Mund debil halb geöffnet. Sie blickte leer und verloren in das Objektiv ihres Fotografen. Interessanterweise trug sie meinen Schlafanzug und trank in meiner Küche Kaffee aus meiner Lieblingstasse.
Ich schluckte. Dann lachte ich. Dann erstarb mein Lachen wieder. Sofort setzte ich mich gerade hin, strich mir durch die Haare und klopfte mir auf die Wangen. „HAST DU DEN ARSCH OFFEN DAS IST NICHT DEIN ERNST!“, wandte ich mich entsetzt an mein Gegenüber. Dann starrte ich wieder auf das Foto von Disneys Cruella kurz vor ihrem Ableben. Ja, die Lage war ernst. Wer morgens so aussieht, hatte definitiv nicht den besten Tag hinter sich, denn nicht einmal eine durchschlafene Nacht hatte wohl noch etwas retten können. Um es vorweg zu nehmen: Nach einer Dusche und nachdem die Frisörin am selben Morgen noch den grauen aschigen Ansatz wieder in ein harmonisches Blond verwandelt hatte, nach einer Tuchmaske und einer Tasse Tee fühlte ich mein Spiegelbild wieder. Das Foto vom Morgen ist mir aber eine stete Mahnung, gut auf mich aufzupassen. Ain’t nobody got time for Frankfurter-Chrystal-Meth-Braut. Holy shit.
On a more positive note: Das Kind meldete schon auf dem Heimweg, dass die Klassenarbeit, deretwegen wir uns am Vortag so in die Wolle gekriegt hatten, „voll leicht war“ und sie ein sehr gutes Gefühl habe. Den Satz „dann hätt ich ja gar nicht so viel lernen brauchen“ atmete ich weg, wie ich es in der Geburtsvorbereitung gelernt habe. Am Nachmittag lernten wir Englisch-Vokabeln miteinander und ich hoffe und bete, dass das Kind sich erinnert, dass „ridge“, „rich“ und „right“ drei völlig verschiedene Dinge sind, dass es nicht santanz sondern sentence heißt und dass boring nirgendwo mit einem a geschrieben wird. Ich bin so froh, wenn der Marathon an Lerndiesundlerndasundwirwiederholen demnächst eine weihnachtliche Pause macht. Ich kann mittlerweile die Unterarten der Biologie ebenso herunterbeten wie die Entwicklungsstufen von Hundewelpen im Mutterleib und die Brennzonen einen Kerzenflamme, aber ich wollte eigentlich nicht nochmal Abitur machen. Sei’s drum.
Und sonst so? Ich habe mir zur Feier des Tages eine Staffel Harry Wild bei Amazon gekauft. Die erste Folge fand ich gut, die zweite glaube ich auch, leider habe ich sie zu großen Teilen verschlafen. Aber das Foto am Morgen lehrt mich: Unausgeschlafen ist alles viel schlimmer, und wer Stress hat, muss ja nicht auch noch scheiße aussehen.
Die Kurznachrichten des Tages
Gegessen: Ein schnelles Müsli mit Milch vor dem Fristörtermin, Backfisch mit Ofenkartoffeln und Lauchgemüse, abends die Reste plus einen großen Lebkuchen
Gelesen: Englischvokabeln, derer viele
Gesportelt: Nada. Keine Zeit und noch keine Power.
Gefreut über: Die Serie, den Lebkuchen, den Erfolg des Tochterkinds. Und einiges mehr.