Leise, fast unbemerkt, scheint sich in den vergangenen Jahren eine invasive Art in Deutschland verbreitet zu haben. Unter den Homo sapiens sapiens, den verständigen Menschen, also den, der sich seines Verstandes bedient, hat sich der Homo nörgelensis gemischt. Eine Art, die scheinbar sehr schonend mit der Ressource Verstand umgeht, möglicherweise auch aus Ressourcenknappheit heraus sparsam damit umgehen muss.
Der Homo nögelensis unterscheidet sich äußerlich nicht vom Homo sapiens und ist daher auch nur am Verhalten von diesem zu unterscheiden. Gibt er Laut, fällt die Unterscheidung jedoch ausgesprochen leicht. Der Homo nörgelensis fühlt sich am Wohlsten dort, wo er seinesgleichen trifft, das ausgeprägte Rudelverhalten lässt sich in Kommentarspalten sozialer Medien besonders gut beobachten. Kommt es dort zu einer Durchmischung der beiden Unterarten, sieht man recht schnell, dass der Homo sapiens dem Homo nörgelensis unterlegen ist. Während der Homo sapiens sich um Argumente bemüht und immer zu neuen Erklärungen in möglichst einfacher Sprache ansetzt, auf Fakten verweist und vergeblich an den Verstand des Homo nörgelensis appelliert, hat der leichtes Spiel: Er hat nämlich Recht.
Hat der Homo nörgelensis einmal ein Thema für sich gefunden, erkennt der Beobachter rasch eine Herdenbildung. Der Homo nörgelensis ernährt sich von Zustimmung Gleichgesinnter, die sich, bedenkt man das weitgehende Fehlen von Verstand, erstaunlich rasch im Feindbild einig sind. Bevorzugte Beute ist für den Homo nörgelensis, alles, was ihm „von oben“ aufgedrückt wird. Seine misstrauische, gar feindliche Haltung gegenüber allem, was Behörden, staatliche Einrichtungen oder andere Machtinstitutionen anordnen, zeigt sich im aggressiven Sozialverhalten. Hinter Entscheidungen vermutet der Homo nörgelensis die grundsätzliche Bösartigkeit der Entscheidungsträger, sein Weltbild scheint geprägt davon, das Opfer willkürlicher Beschlüsse zu sein, denen er sich fügen soll. Dass Amtsinhaber, geleitet von einem Verantwortungsgefühl, an Aufgabenstellungen herangehen und Enscheidungen sorgsam abwägend treffen und eben nicht danach, wie sie dem Homo nörgelensis möglichst großen Schaden zufügen, scheint gänzlich außerhalb dessen Vorstellungsvermögen. Der Homo nörgelensis sieht sich in der Opferrolle und ist grundsätzlich erst einmal dagegen. Gegen alles. So richtig. Gerne auch crossmedial.
Um seinen Unmut über seine Situation möglichst jedem begreiflich zu machen, wettert der Homo nörgelensis gerne in sozialen Medien gegen alles, was ihm diesen Aufwand wert scheint. Neuerungen, Neuanschaffungen und Neubauten findet der Homo nörgelensis grundsätzlich unnötig und klagt über die Verschwendung von Steuergeld. Er malt dytopische Zukunftsbilder vom „kleinen Mann“, der stets gegeißelt und geschröpft wird. Dabei verhält er sich äußerst kreativ. Öffnet ein neuer Laden, moniert der Homo nörgelensis das Warenangebot. Schließt ein Laden, bedauert der Homo nörgelensis den grundsätzlichen Niedergang der Wirtschaft. Erweitert ein Amt seine Öffnungszeiten, beklagt der ewig Klagende die Unfreundlichkeit der Angestellten, werden die Schalterzeiten gestrafft, missfällt ihm freilich die Bürgerunfreundlichkeit. Findet ein Festival statt, stören die Menschenmassen, die Lautstärke, der schiere Anblick der Gäste (und was das alles KOSTET!), wird es abgesagt, sind die wahren Gründe bestimmt bei „denen da oben“ zu suchen, die den bemitleidenswerten Veranstaltern den Garaus machen wollten. Bietet die Stadt kostenlose Parkplätze an, sind es grundsätzlich zu wenige, gibt sie Geld für Kunst aus, hat sie wohl das Haushalten verlernt und sowieso immer den Arsch offen.
Dem Homo nörgelensis ist es völlig egal, was in den Artikeln der ohnehin obrigkeitshörigen Presse steht, unter denen er seinen Hass auskübelt. Denn zum Lesen und Verstehen scheint wiederum nur der Homo sapiens sapiens in der Lage zu sein, der sich interessanterweise nicht gerne dort aufhält, wo der Homo nörgelensis lautstark wütet.
Dass die Population des Homo nörgelensis in den Jahren der Pandemie stark zugenommen hat, ist ein subjektiver Eindruck und kann nicht wissenschaftlich belegt werden. Sicher ist jedoch, dass beim Homo nörgelensis die Lebensfreude gemessen an der Lebenszeit in einem starken Missverhältnis steht. Weil sich der Homo nörgelensis als eine invasive Art zeigt, also in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen zum Homo sapiens sapiens tritt, und ihn zu verdrängen droht, ist einzig und allein das Abstandhalten als Vorsichtsmaßnahme zu empfehlen. Oder um die Autorin, die sich mit Grundlagenforschung zum Homo nörgelensis beschäftigt, zu zitieren: „Ain’t nobody got time for bullshit.“