Ich
Als ich gestern Abend die Brotdose aus dem töchterlichen Schulranzen holte, fiel mir ein Blatt voller Matheaufgaben in die Finger – mit Namen beschriftet. Ich hatte eine Ahnung. Eine, die sich heute morgen beim Nachfragen bestätigte: „Ja, ich soll da nochmal üben, hat Frau Plusminus gesagt“, erfuhr ich. Aus Gründen wohl. Jetzt bin ich gespannt aufs Ergebnis der Mathearbeit…
Ich nahm es hin, ändern lässt es sich nun eh nicht mehr. Und das an einem Morgen um sieben, nach einer Nacht, in der ich zu wenig geschlafen und wirres Zeug geträumt hatte, erschüttert aufgewacht bin und einen Moment gebraucht hatte, den Traum als ebensolchen zu erkennen. Ich setzte das Kind an der Schule ab und machte mich nach über einem Monat wieder auf in die Redaktion. Dort, so hatten die Kollegen gestern berichtet, warte ein neuer Arbeitsvertrag auf mich. Um halb acht Uhr morgens wartete ansonsten dort niemand auf mich, da war ich mir sicher.
Ich atmete den vertrauten Geruch des Hauses ein, huschte die dunklen Treppen hinauf, den Gang entlang. Ein bisschen fühlte ich mich wie ein Einbrecher, der lautlos durch die Räume wandelt. Ich fuhr den Rechner hoch und suchte – aber mein Vertrag war nicht gekommen. Etwas ratlos saß ich noch eine Weile vor dem hellen Bildschirm und starrte aufs leere Postfach. Dann beschloss ich, den Kollegen wenigstens noch ein Frühstück zu besorgen, fuhr zum Bäcker und noch einmal in den Verlag. Und dann nach Hause. Dort saß ich mit meinem Pain au chocolat in der Küche und grübelte vor mich hin. Und fasste nach einer halben Stunde den Entschluss, das zu tun, was ich immer tue, wenn die Endlosschlaufe in meinem Kopf nicht aufhört: mich zu bewegen.
Ich zog mich an und lief stumpf in eine Richtung, bis sich daraus der Plan kristallisierte, meinem Mann zur Arbeit entgegenzugehen, auf dass er mich mittags auf dem Heimweg wieder mitnehmen würde. Zwischendurch erreichte mich die Nachricht, dass mein Paps erneut einen Termin in der Klinik braucht, um eine Wunde begutachten zu lassen. Er hat vor zwei Jahren einen Zeh verloren, wir hoffen alle sehr, dass es bei dem einen bleibt. Aber auch das addierte sich selbstredend zum Grübelberg.
Also lief ich. Weil das Kind sich an den neuen Schulalltag gewöhnen muss, weil Noten eben auch nur Noten sind, weil sie Halt und Sicherheit grade mehr braucht als Druck und Geschimpfe und weil man den Dingen auch einfach mal vertrauensvoll ihren Lauf lassen muss. Ich lief, weil ich weder Ärztin noch sonstwie medizinisch versiert bin und drauf vertrauen muss, dass Menschen mit mehr Fachwissen die Wunde richtig einschätzen und adäquat behandeln. Morgen wissen wir mehr. Ich lief, im Vertrauen darauf, dass mein Vertrag schon noch kommt und dass sich alles findet. Ich lief über zwei Stunden lang.
Elfeinhalb Kilometer später ließ ich mich aufgabeln. Mit einem besseren Gefühl. Das mit dem Vertrag hatte sich sogar schon auf dem Weg geklärt. Auch hier: morgen wissen wir mehr.
Gehen, laufen zu können, ist ein Segen. Einen Körper zu haben, der einen jederzeit über Berge trägt, bedeutet auch, einer Seele ein Zuhause zu geben, die Täler durchsteht. Das eine hängt untrennbar mit dem anderen zusammen.
Als das Kind heute heimkam, berichtete es von einer gut gelaufenen Bioarbeit und war wieder aufgemuntert. Und ich wieder gelassener. Alles auf Anfang also, durchatmen, weitermachen. Morgen ist ein neuer Tag, mir reicht’s mit den Hiobsbotschaften für den Rest der Woche aber allemal.
Die Kurznachrichten des Tages:
Gegessen: Ein Pain au chocolat, einen Teller Fussili mit Lachssahnesoße, einen Salat und ein Stück Tiramisu, heute Abend ein Müsli mit Kaki.
Gelesen: Wegschilder. Und Aufmunterndes über den oft holprigen Start kleiner Gymnasiasten.
Gesportelt: 11,5 km gewandert, das gilt auch.
Gefreut über: Dass Dinge sich fügen und lösen, dass Träume nicht real sind, dass ich einen Körper habe, der mich durchs Leben trägt. Ain’t nobody got time for mimimi.