Ich
Während ich mit müden Armen diese Zeilen tippe, läuft der Soundtrack zu „Rocky“ im Hintergrund. Aus Gründen. Während ich gestern Abend mit einem tiefen Seufzer die Decke über die Ohren gezogen habe, begleitet von einem Stoßgebet zum Himmel, dass sich die vielen Unklarheiten bitte fügen mögen, wachte ich nach sechseinhalb durchgeschlafenen Stunden wieder auf und war sofort hellwach. Ich jagte begleitete das Kind zum Bus und machte mich auf, mit einer Freundin die Morgenrunde zu laufen. Im Nieselregen und im Wind, aber wir sind ja nicht aus Zucker. Ihr erzählte ich noch einmal von all den Querelen, vom Schulstress, dem Aua-Zeh, dem fehlenden Vertrag und und und. Bevor ich daraus jetzt eine langatmige Story mache: Die Nachricht aus dem Krankenhaus war eine Gute, der Zeh braucht Geduld, darf aber dranbleiben. Auch das mit dem Vertrag hat sich geklärt, er ist auf dem Weg zu mir. Und dann schrieb das Kind, das heute bibbernd jene Englischarbeit zurückerwartete, für die wir nach dem verhauenen Test so viel gelernt hatten per whatsapp: „2-3“. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie viele Steine mir vom Herzen gefallen sind. Vor allem ihrem Selbstvertrauen hat das gut getan. (Und meinem auch ein bisschen, man will ja, dass das Kind irgendwie glücklich ist).
Mein absolutes Highlight war allerdings etwas anderes: Ich habe heute morgen zum ersten Mal in meinem Leben rote, dicke Boxhandschuhe angezogen (bekommen) und auf Bratzen eingeschlagen. Ich hatte mir eine Probestunde bei einem Coach gebucht, weil ich das Thema Selbstverteidigungskurs bzw. Fitness- und Krafttraining schon lange einmal angehen wollte. Es schien mir, wir ein Puzzlestück, das zu meiner Persönlichkeit gehört und endlich an die richtige Stelle gelegt werden will.
Wie viel Spaß die Sache macht, ahnte ich allerdings nicht. Auch nicht, wie sauanstrengend das Ganze ist. Nach einer Stunde konzentriertem rechts-links-ducken war ich absolut durch. Nicht nur körperlich, auch mental. Anscheinend habe ich mich aber gar nicht so doof angestellt, der Trainer fragte mich mehrfach, ob ich das wirklich zum ersten Mal mache.
Als ich wieder im Auto saß, völlig geflasht von dem Erlebten, wurde mir eines bewusst: Wir sollten viel öfter mal beiseite schieben, wer wir glauben zu sein. Und andere Entwürfe von uns selbst zulassen. Wie ein Kleid, das man im Geschäft vor dem Spiegel am Bügel vor sich hält. Wenigstens mal in der Theorie anprobieren, welche Rolle das Leben für uns noch parat halten könnte. Raus aus der Schublade, in die wir uns selbst stecken. Zu alt ist man nie, sich neu zu erfinden, neu zu entdecken, weiterzuentwickeln. Im Gegenteil, vermutlich macht uns Stagnation eher alt.
Mir hat es heute unglaublich gut getan, über meinen Schatten zu springen und auf die Bratze eines bis dato Unbekannten einzudreschen. Ich habe ein Ich in mir, das bisher hundertmal eher einen Zumba-Kurs gebucht hätte als über Kampfsport nachzudenken. Aber das andere Ich durfte eben heut mal der Bestimmer sein und siehe, es war gut. Ich bin so froh, mir diesen Schritt zugetraut zu haben.
Ich habe diese Stunde für mich jetzt im zweiwöchigen Turnus gebucht, montags um acht. (Allein der Termin ist doch Knaller, wie kann eine Woche bitte besser starten, als damit, sich mit Boxhandschuhen erstmal so richtig auszutoben?!) (Ach ja, das mit dem Sixpack habe ich auch angesprochen – auch das kriegen wir hin, versprach der Coach. Ich sagte doch, ich mach keine halben Sachen.)
Und sonst so? Wie ich gerade glaubte, mein Leben auf die Kette zu kriegen, ereilte mich die Nachricht, dass es für die morgige Verlags-Weihnachtsfeier einen Dresscode gebe. Nicht etwa das kleine Schwarze. Sondern: „Ugly Christmas Sweater. Verbindlich.“ Da waren sie wieder, meine drei Probleme
Die Kurznachrichten des Tages:
Gegessen: Frühstück ist vor lauter komplett ausgefallen – fiel mir irgendwie mitten in der Boxerei auf, aber da war an Essen nicht zu denken. Mittags gabs vegetarisches Sushi und gefüllte Teigtaschen, heute Abend eine Brezel mit Thunfischsalat und zwei Hände voll Chips. Auf diesen Tag. Das mit dem Obst und den Vitaminen ist morgen wieder dran.
Gelesen: Die Englischarbeit des Tochterkinds, Dies und Das im Netz.
Gesportelt: Eine Stunde mit dem Coach kreuz und quer über die Matte. Nach dem Duschen daheim fragte ich mich, seit wann der Föhn zehn Kilo wiegt.
Gefreut über: Etwas Neues entdeckt zu haben, das irre Gefühl nach einer Stunde im Flow, natürlich die gute Nachricht vom Zeh und die gute Englischarbeit.